„Hörst du dir eigentlich selbst zu?“

Text:

Lektorat:

… , fragen wir jemand gewöhnlich, wenn wir ausdrücken wollen, dass die Person gerade etwas von sich gegeben hat, dem wir eher ablehnend gegenüberstehen. 

Ich richte diese Frage an alle, die Text produzieren und meine das nicht im übertragenen Sinne, sondern im ganz und gar wörtlichen. 

Denn meine Theorie lautet: 

Wirklich empathisches Schreiben, das sich bewusst an ein Publikum richtet – also Copy pur – kommt nicht ohne eine nötige Portion Selbstempathie aus 

Vor allem dann, wenn es sich um ethisches Marketing handelt, dem sich immer mehr Texter*innen im Dienste des ökologischen und kulturellen Wandels verpflichtet haben.

Als Formel lässt sich das folgendermaßen ausdrücken:

Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber x Zuwendung zum Text = Einfühlsamkeit für das Publikum

Die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und Emotionen hat einen Einfluss auf unser Gespür für diejenigen, die wir erreichen möchten. Wie lässt sich diese Idee auf das Schreiben für unsere Kund*innen übertragen?

Es ist viel über Selbstempathie geschrieben worden. Was dieser Begriff umfasst, finde ich jedoch am umfassendsten bei Rosenberg im Rahmen seiner gewaltfreien Kommunikation erklärt. Wenn wir auf unsere „innere Stimme” hören (1) und unsere Aufmerksamkeit auf das richten, was wir wirklich brauchen (2), ermöglicht uns dieses Selbst-Empathie-Geben, für die andere Person da zu sein (3).

Setzen wir das in Bezug zur Kunst des Kommunizierens im Marketing, ergibt sich folgende selbstanalytische Checkliste, bevor wir ans Werk gehen:

  • Wie möchte ich angesprochen werden? 
  • Welche Themen und Perspektiven sind mir wichtig? 
  • In welcher Welt möchte ich mich wiederfinden? 
  • Kann ich diese Wünsche formulieren, und bin ich mir ihrer bewusst?

Frage dich auch beim Lesen eines anderen Textes, 

  • was dich genau anspricht, 
  • an welchen Stellen du ein Kribbeln verspürst, 
  • welche Worte etwas in dir auslösen. 

Das bist du, und dieses Gefühl solltest du kennen, um dich in andere einfühlen, Reaktionen auf Text und die Wünsche an ihn verstehen zu können.

Jetzt übertragen wir diese Fragen und eigenen Erkenntnisse auf unser Publikum:

  • Auf welche Weise möchte die von uns angesprochene Leserschaft behandelt werden?
  • Wie klingt die Sprache und wie sehen die Bilder aus, die an der Seele unserer »Persona« Anklang finden?
  • Wird die Qualität meines Textes den Ansprüchen meiner Leser*innen gerecht? 
  • Sind das Ausmaß und die Auswahl an Information zumutbar bzw. genügen sie den Anforderungen?
    Insbesondere in Zeiten, in denen falsche Aussagen als Fakten und Nachrichten verkleidet und verbreitet werden, hat diese Überlegung höchste Relevanz, wenn wir verantwortungsbewusst schreiben wollen.

Die Superpower Selbstempathie als Booster für einfühlsame Texte

Was verstehen wir also beim Schreiben, wenn wir uns selbst Empathie geben?

  • Wir kennen das Vorhandensein von Bedürfnissen und Erwartungen an das Geschriebene. So wünschen wir uns beispielsweise aufrichtige Unterstützung als Antwort auf eine Investition.
  • Uns ist bewusst, dass bestimmte Gefühle mit bestimmten Wörtern verbunden sind. Sie können, wie auch bestimmte Formen der Berührung, emotionale Reaktionen verschiedener Qualität triggern. 
  • Was Sprache bewirken kann, ist nicht nur Teil unseres kulturellen Wissens, sondern auch eine der eigenen Erfahrung geschuldete Erkenntnis. Als Auslöser unterschiedlicher Gefühle – von den schwerer zu verarbeitenden bis zu denen, die Wohlempfinden auslösen – nutzen wir sie feinfühliger, ohne zu verschleiern oder uns selbst zu verleugnen.
  • Da wir selbst nicht manipuliert oder kontrolliert werden möchten, respektieren wir den Wunsch anderer nach Autonomie, nach der Freiheit, die Wahl zu haben.
  • Als Kategorie erfasst, in Schubladen gesteckt und bewertet werden – das möchte niemand. Wir erwarten Respekt und Wertschätzung und möchten den Verfasser*innen vertrauen. Das gestehen wir auch unserem Publikum zu.
  • Wir wissen, dass sich über den Zugang zu anderen sprachlichen Mikrokosmen ein Verständnis für andere individuelle Bedürfnisse und Vorstellungen entwickeln lässt. Ideen und Sichtweisen eröffnen sich uns, von denen wir ohne dieses Uns-Einlassen niemals erfahren hätten und die uns beim Schreiben bereichern. Also wagen wir das Abenteuer, lassen uns auf die Erkundung anderer Welten ein.
  • Mit diesem Bewusstsein, dass unsere Erfahrungen und Emotionen, die in unseren Texten mitschwingen, nicht unbedingt die Erfahrungen und Emotionen unserer Leser*innen sein müssen, texten wir anders. Schreiben, das auf Selbstempathie aufbaut, lässt Räume für Erfahrungen offen. Fragen, die zur Selbstreflexion anregen, sind daher immer ein besserer Ratgeber als eine Liste von Vorschriften oder Zurechtweisungen. Letzteres gilt besonders für all diejenigen, die ihre Botschaft im Dienste des Wandels verbreiten.
  • Außerdem kennen wir den Eindruck, sich als Teil der Welt eines Textes zugehörig, angesprochen, als ein in ihr willkommener Gast zu fühlen. Aber wir haben auch erlebt, wie fremd und nicht aufgehoben man einem Text gegenübersteht – vor allem mit dem Gefühl, ihm genügen zu müssen.

Wir schenken also auf Grundlage eines selbstempathischen Verständnisses unserem Schreiben mehr Aufmerksamkeit in puncto einer nicht empathischen Kommunikation, die mit Forderungen, Verurteilungen, Bewertungen und Unverständnis für die Adressat*innen daherkommt.

Aufrichtige Texte erreichen ein aufgeschlossenes Publikum

Selbstempathie heißt auch, der eigenen Sprache Zuwendung zu geben und damit ein Publikum zu erreichen, das fühlt, dass jemand wirklich hinter dem Geschriebenen steht.

Wie können wir in einer Sprache schreiben, die unser Bewusstsein der eigenen Identität und dadurch Authentizität widerspiegelt?

Kennst du dich selbst am besten und schreibst so, wie du bist? Lässt du deine innere Stimme laut werden und verstehst du, was sie dir mitteilt?

Einige deiner Möglichkeiten, diese genuine Sprache für dich zu identifizieren, findest du in meinen Rezeptvorschlägen für das Funkeln in der Stimme (Wann ist ein Text dein eigener Text?)

Empathie für uns selbst bedeutet also nicht nur zu verstehen, wie einzelne Menschen im Publikum fühlen, Sprache oder Text aufnehmen und darauf reagieren. Sie lehrt uns auch, wie man die Empathie eines Publikums für sich und die eigene Sache gewinnen kann. 

In dieser Hinsicht kann selbstempathisches Schreiben hinnehmen, dass der Text nicht von allen Leser*innen gleichsam angenommen oder verstanden wird. Das öffnet dir die Chance, durch andere Interpretationen andere Sichtweisen einzunehmen und Systeme zu verstehen, deinen Horizont des zwischenmenschlichen Austauschs zu erweitern.

— Nadine Stelzer

Quellenangaben

Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Junfermann, 2016

Zitat (1): S. 186

Zitat (2): S. 187

Zitat (3): S. 105f.